The Ritchie Boys

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47. Internationales Leipziger Festival für Dokumentar- und Animationsfilm

19. – 24.10.04

The Ritchie Boys

 

von Christian Bauer

 

(Deutschland/Kanada 2004)

Am 01. Oktober 1998 wurde das Camp Albert C. Ritchie (kurz Camp Ritchie) am Fuße der Blue Ridge Mountains in Maryland/USA von der US Army außer Dienst gestellt. Bis dahin hatte dieses wie ein Kurort anmutende Gelände verschiedene Verwendungen, während der 1920er wurde hier beispielsweise die Nationalgarde trainiert. Während des zweiten Weltkrieges beanspruchte dann die US Army Camp Ritchie, um hier ihr zentrales Military Intelligence Training Center (MITC) einzurichten und am 19. Juni 1942 offiziell zu eröffnen. Das war zu einer Zeit, als die USA nur indirekt – durch die Unterstützung Großbritanniens – in den Zweiten Weltkrieg involviert waren. In den folgenden Jahren wurde hier die Gesamtheit des Personals aus dem Bereich “Counter Intelligence“ (damals „Abwehr“) ausgebildet. Etwa 10.000 Soldaten durchliefen verschiedene Lehrgänge – Psychologische Kriegsführung (schwarze und weiße Propaganda) ebenso wie Gesprächsaufklärung (heute mit dem Begriff HUMINT (Human Intelligence) belegt). Hans Habe beschreibt es in seinem Buch „Im Jahre Null“ so: „Man lernte Tag und Nacht: Kundschafterdienst hinter den Linien, Kriegsgefangenenverhör, Lesen von Flugaufnahmen, Gegenspionage, Völkerkunde, psychologische Kriegführung, Nachrichtenanalyse. Oberstleutnants drückten die Schulbank neben gemeinen Soldaten. Die Tagesnachrichten, die während der Mahlzeiten in der Kantine durch einen Lautsprecher verkündet wurden, ertönten in fünfzehn Sprachen.“ In einer Kapelle fanden gemäß der religiösen Durchmischung des Personals regelmäßig sowohl protestantische, katholische wie auch jüdische Gottesdienste statt. Viele derjenigen, aus denen dann die Ritchie Boys wurden, waren Emigranten. Für viele Aufgaben auf dem europäischen Kriegsschauplatz waren solche aus deutschsprachigen Ländern stammende und in ihrer Heimat verfolgte Ritchie Boys perfekt geeignet. Ihre Motivation und Qualifikation unterschied sie fundamental von “native Americans“. Sie waren mit Sprache, Kultur und Vorstellungen des Feindes von Kindesbeinen an vertraut. In Camp Ritchie erlangten sie jene Zusatzqualifikationen, die ihren Einsatz später um so effektiver machen sollte.

Von Camp Ritchie aus ging es an alle Kriegsschauplätze.

 

Christian Bauer hat Ende der 1980er Jahre die damals noch lebenden Ritchie Boys ausfindig gemacht und einen Film vorbereitet, den er damals aber nicht finanziert bekam. Etwas mehr als zehn Jahre später hat er sich dieses Projekt nochmals angenommen und konnte es diesmal – auch durch die Unterstützung von WDR, MDR und BR – realisieren. Zwischenzeitlich waren allerdings viele der Protagonisten verstorben. Immerhin konnte Bauer mit zwanzig noch lebenden Ritchie Boys Interviews führen, von denen zehn im Film zu Wort kommen. Die Gesamtheit der Interviews hat darüber hinaus Eingang in ein Buch gefunden, daß nächstes Jahr im Verlag Hoffmann & Campe erscheinen wird und auf das man durchaus gespannt sein darf. Denn es handelt sich bei den Ritchie Boys um Veteranen der besonderen Art – Bauer nennt sie Individualisten –, die nach dem Zweiten Weltkrieg z. T. ganz erstaunliche Karrieren in verschiedensten Organisationen und Institutionen gemacht haben. Ihr Blick auf die Zeit des Zweiten Weltkrieges ist besonders reflektiert und bereichernd. Und daß einige ihrer Geschichten über die Zeit „eleganter“ (Christian Bauer) geworden sind, tut der Sache keinen Abbruch.

Einige spannende Teile der Interviews, die keinen Eingang in den Film gefunden haben, werden dann hoffentlich durch das Buch das Bild erweitern.

 

 

(Max Bornefeld-Ettmann)

 

        • Lektüreempfehlung:
        • Habe, Hans: Im Jahre Null. München 21977.
        • Padover, Saul Kussiel: Lügendetektor. Vernehmungen im besiegten Deutschland 1944/45. Frankfurt a. M. 1999.

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